Die Entscheidung fiel kurz vor dem Praktischen Jahr (PJ). Neben der Chirurgie und der Inneren Medizin darf man im PJ ein Wahlfach belegen. Ich fand die Neurologie interessant. Begonnen habe ich mein PJ aber in der Chirurgie in Northeim. Das fand ich so gut, dass ich doch wirklich überlegt habe Unfallchirurg zu werden. Als ich anschließend in die Innere Medizin wechselte, wollte ich lieber Internist, am besten Kardiologe, werden. Im letzten Teil des PJ lernte ich dann die Neurologie kennen. Ab dem Zeitpunkt war für mich klar, dass es nichts anderes mehr für mich gibt. Denn hier schließt sich der Kreis: Hier kommt mein Interesse an Physik, Elektrizität und mathematischem Denken wieder zum Vorschein. Neurologie ist ein zum Teil sehr analytisches Fach mit viel Diagnostik, logischem Denken und Knobeln. Nervenbahnen sind wie Stromkabel, das Gehirn wie ein Computer – alles eingebettet in einen biologisch funktionierenden Körper mit einer starken Seele. Die Neurologie verwendet viele Messmethoden, die wir aus der Physik kennen; damit und mit vielen anderen Techniken versuchen wir die Ursache eines Krankheitsbildes zu finden. Der Mensch ist aber keine Maschine, sondern viel komplizierter.
In der Neurologie sind Symptome oft nicht eindeutig, sodass man nicht sofort den Ursprung einer Erkrankung ausfindig machen kann.
Das ist richtig und das ist das Spannende. Neurologische Patienten sind unglaublich vielschichtig in der Art ihrer Beschwerdebilder. Ein Patient, der hinfällt und sich das Bein bricht, weiß, was die Ursache für den Schmerz ist. Ein Patient, der mit einem steifen Arm zu uns kommt und denkt, dass es vielleicht an der Schulter liegt, wird vielleicht plötzlich mit der Diagnose Parkinson konfrontiert. Einige Erkrankungen in der Neurologie betreffen das Gehirn und damit das Organ, das wesentlich unser Menschsein ausmacht. Daher gibt es auch oft Situationen, in denen wir bei der Diagnostik fragen müssen: „Ist das noch normal oder ist das schon Symptom einer Krankheit?“. Nicht jeder, der mal etwas vergisst, hat gleich eine Demenz. Aber wenn man zu häufig zu wichtige Dinge vergisst, dann beginnt vielleicht doch diese leider noch immer nicht behandelbare Erkrankung. Oder das Kribbeln im Fuß, bei dem der junge Mensch erst dachte, es sei nur eine Verspannung, dann geht es nicht weg und wir müssen eine MS diagnostizieren. Stellen Sie sich vor, wie in diesem Moment Welten zusammenzubrechen scheinen. Und genau in diesem Moment muss ich beginnen, mich auf den Gefühlszustand des Patienten einzulassen. Was sind seine Ängste? Wo kann ich ihm die Sorge nehmen? Wo muss ich ihm sagen, dass ich ihm die Sorge nicht restlos nehmen kann? Wie kann ich zu ihm durchdringen, um ihm Möglichkeiten darzustellen? Wie kann ich dem Menschen helfen, mit dieser neuen Situation umzugehen?
Aber es kann auch umgekehrt sein: Patienten haben Schmerzen, Gefühlsstörungen, Sehstörungen oder Schwindel und denken, dass dahinter eine schlimme körperliche Erkrankung stehen muss. Wir können dann nicht selten feststellen, dass die Organe des Körpers nicht erkrankt sind; dann müssen wir dem Patienten erklären, dass die Beschwerden Ausdruck einer Erkrankung eines besonderen Organs sind, das wir Seele nennen.
Ein Chirurg heilt im besten Fall durch eine Operation einen Patienten. In der Neurologie hat man oft mit Patienten und Krankheitsbildern zu tun, die man nicht heilen kann.
Wissen Sie, Arzt zu sein bedeutet oft eben nicht „heilen“ im Sinne von „reparieren“. Wir – und das betrifft nicht nur die Neurologen – können bei vielen unserer Patienten die Erkrankung nicht vollends beseitigen. Auch ein Chirurg kann in vielen Fällen eine Krankheit nicht ungeschehen machen. Aber wir Ärzte können – und das ist unsere wesentliche Aufgabe – den Patienten helfen, mit ihrer Erkrankung umzugehen und den Zustand zu verbessern. Hier kann gerade die Neurologie viel mehr als gedacht. Als ich Neurologe wurde, hieß es, dass wir bei Patienten einen Schlaganfall, MS (Multiple Sklerose), Parkinson oder Epilepsie zwar feststellen, aber nichts dagegen tun könnten. Das stimmte zwar schon damals nicht, aber heute können wir noch viel besser durch rasches Handeln die Folgen von Schlaganfällen oft verhindern oder zumindest deutlich abmildern. Wir sorgen dafür, dass viele Epilepsie- oder MS-Patienten unbeeinträchtigt ihre Leben führen können. Auch Parkinson-Patienten können heute mit ihrer Erkrankung durch gezielte Behandlung lange gut klarkommen.
Die Aufgabe eines Neurologen ist es, die Patienten dabei zu begleiten, eine Herausforderung im Leben zu meistern und mit einer Erkrankung ein Leben zu gestalten. Gerade am Anfang einer Behandlung kann und muss man viele Weichen stellen. Wir reden mit Patienten über ihre Ängste und darüber, was aus ihnen wird. Wir sprechen mit ihnen darüber, was mit einer Behinderung nach einem Schlaganfall möglich ist und was nicht. Mit einem Epilepsie-Patienten überlegen wir, was beruflich machbar ist. Uns interessieren dabei der Mensch und seine Vorstellung vom Leben. Im besten Fall – und natürlich gelingt es mir nicht immer – versuche ich, gemeinsam mit dem Patienten zu ergründen, wie sein Leben mit der Erkrankung aussehen soll. Diese Wegbegleitung erscheint mir als sinnvolle Aufgabe und danach habe ich mich in meinem Leben gesehnt: Eine Dimension neben der medizinischen Behandlung, die schaut, wie man das Beste aus einer schwierigen Situation machen kann, auch wenn man diese nicht vollständig – um das Wort wieder aufzugreifen – „reparieren“ kann.
In Ihrem beruflichen Alltag müssen Sie Menschen häufig die Nachricht überbringen, dass sie schwer erkrankt sind. Wie nah lassen Sie das an sich ran?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich würde von Schutzhüllen sprechen, die ich brauche - fest genug, um nicht emotional mitgerissen zu werden, aber dünn genug, um Feinheiten zu fühlen. Je nach Situation muss ich verschiedene Lagen „anziehen“. Das gelingt nicht immer. Aber vor einem Patienten sollte ich meine Emotionen im Griff haben, da es ihm nicht hilft, wenn ich mit ihm traurig bin. Wir alle kommen auf die Welt und wissen, dass wir sterben werden. Aber wir setzen uns viel zu spät mit dieser Gewissheit auseinander. Zeichnet es sich ab, dass der Patient die Welt in naher Zukunft verlassen wird, gehen wir mit ihm und den Angehörigen ins Gespräch. Wie soll das Leben bis zum Sterben aussehen? Was will der Patient noch erleben? Was ist für den Patienten Qual und was für die Angehörigen Loslassen? Was bedeutet Lebensqualität? Den professionellen Umgang mit diesen Situationen muss man lernen. Das wird einem nicht in die Wiege gelegt. Deshalb leidet man gerade zu Beginn seiner Laufbahn unter der psychischen Last seiner Arbeit.
Was hilft einem, mit dieser Last umzugehen?
Mit der psychischen Belastung bin ich nicht allein, sollte keiner der Ärztinnen und Ärzte in meinem Team allein sein. Es ist sehr hilfreich, dass es in unserem Team möglich ist, solche Situationen zu besprechen, sich auch Unterstützung und Hilfe von Kolleginnen und Kollegen zu holen. Mein Anspruch ist es, dass die Ärztinnen und Ärzte die schwierigen Momente nicht mit nach Hause nehmen, sondern diese in der Klinik im Team verarbeiten können. Unsere Patienten zusammen mit einem tollen Team zu behandeln, gibt die Möglichkeit, die Arbeitsbelastung, aber auch die psychische Belastung in kritischen Situationen gemeinsam zu meistern. So wie man sich auch über Behandlungserfolge im Team gemeinsam freuen kann.
Sie haben ein sehr junges Team, richtig?
Viele ärztliche Mitarbeiter fangen direkt nach dem Studium bei uns an. Sie haben bei uns ihr praktisches Jahr absolviert und bleiben gern. So haben wir im Team eine relativ geringe Fluktuation. Ich schätze mich wirklich sehr glücklich mit meiner Mannschaft. Im Umgang miteinander vergleiche ich uns gern mit einer Familie: Jeder hat seine Besonderheiten. Aber jeder darf so sein, wie es seinem Charakter entspricht. Da gibt es zum einen die sehr Gewissenhaften, die viel prüfen und kontrollieren, und zum anderen gibt es die etwas Kreativeren, die viele Ideen einbringen. Mir gefällt diese große Klaviatur – menschlich wie auch fachlich – im Team oder anders gesagt, mein Orchester in der Neurologie. Wenn unterschiedliche Stimmen gut harmonieren und jede Stimme Berechtigung hat, entsteht etwas Besonderes. Natürlich kann man nur wachsen, wenn der Raum dafür da ist. Deshalb ist es enorm wichtig, dass man eine lebenswerte Umgebung schafft, auch wenn es Ecken und Kanten gibt. Das soll jetzt nicht übertrieben klingen, aber mir ist es wichtig, mehr als Sympathie, ja fast Liebe für Mitarbeiter und Patienten aufzubringen. Das hier ist mehr als nur ein Job, den man abreißt. Hier muss man mit seinem Herzen dabei sein. Und wenn man mit dem Herzen dabei ist, spricht man von Liebe.
Ich hatte das Glück, vor 13 Jahren hier rasch ein tolles Team aufzubauen. Evelin Löffler, mit der ich in Göttingen zusammen Medizin studiert hatte, und Herr Kornek, waren als erfahrene Oberärzte schon hier und erleichterten mir den Einstieg. Dr. Stephan Henning und Dr. Dr. Jan Schindehütte waren Weggefährten in Göttingen und sind mit mir nach Hildesheim gekommen. Es war ein großes Glück für mich, als Chefarzt mit vier Oberärzten und großem gegenseitigen Vertrauen eine Abteilung aufzubauen. Allein wäre dies nicht möglich gewesen: Die Stroke Unit, die Epilepsy Care Unit und so vieles anderes.
Stichwort „Epilepsy Care Unit“ – Ihr Schwerpunkt ist die Epilepsie. Was fasziniert Sie an dieser Erkrankung?
Epilepsie fasziniert mich zum einen, weil die neurobiologische Grundlage etwas mit elektrischer Aktivität des Gehirns zu tun hat, die beim Anfall vorübergehend fehlerhaft ist. Hier kommt mein Interesse an Physik und Naturwissenschaften wieder zum Vorschein. Zum anderen sind die Erscheinungsformen epileptischer Anfälle sehr spannend. Es sind dabei die kleinen, manchmal subtilen Anfälle, die das Gehirn auf ungewöhnliche Weise unnormal funktionieren lassen – und nicht immer fällt das gravierend auf. Die Epilepsie als eine der ältesten Erkrankungen begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden und die Erkrankung spiegelt einen Teil unserer gesellschaftlichen Wertvorstellungen wider. Wir kennen die Epilepsie schon von den Ägyptern, den Griechen und den Römern. Dort hieß sie „heilige Krankheit“ (morbus sacer), weil man den Erkrankten etwas Göttliches, Übernatürliches zugesprochen hat. Über die Jahrtausende hat sich dieses Bild sehr verändert: Im Mittelalter hat man Menschen mit Epilepsie gefoltert, weil man sie von Dämonen besessen hielt. Im Dritten Reich hat man das Leben der Epilepsiekranken als unwert bezeichnet. Heute können die meisten Menschen mit Epilepsie zum Glück ein ganz normales Leben führen.
Was ich persönlich ganz besonders interessant finde: Man spekuliert sogar, dass Menschen aus biblischen Geschichten mit Epilepsie oder mit einer anderen neurologischen Erkrankung zu tun gehabt haben könnten. Über Saulus wurde erzählt, er habe plötzlich ein Licht gesehen und eine Stimme gehört. Danach habe er drei Tage nicht sehen können. Dieses Ereignis war für Saulus offenbar der Impuls zur Änderung; er wurde zum Paulus. Für mich stellt sich hier die Frage: War es etwas Göttliches? War es eine Erkrankung? Vielleicht beides? Auch gibt es eine starke Verbindung der Epilepsie mit der Auferstehung Jesu: Die Geschichte des epilepsiekranken Jungen wird im Markus-Evangelium umrahmt von den beiden Geschichten der Verklärung Jesu und der Voraussage von Jesu Auferstehung. Nicht nur für mich bedeutet dies, dass der epileptische Anfall und das Aufwachen danach Sinnbild für Jesu Tod und Auferstehung ist. Für uns Christen ist dies ein zentraler Aspekt unseres Glaubens.
Da wir gerade vom christlichen Glauben sprechen: Haben Sie sich eigentlich bewusst für ein katholisches Krankenhaus entschieden?
Während meiner Zeit an der Uniklinik Göttingen wusste ich nicht recht, ob und wie sich ein christliches Krankenhaus von einem anderen Krankenhaus unterscheidet. Eine Uniklinik hat den Anspruch High-End-Medizin zu betreiben. Es zählen fachliche und wissenschaftliche Erfolge. Wenngleich es natürlich auch für mich wichtig ist, fachlich gut zu sein, so hatte ich doch gehofft, dass es in einem konfessionellen Haus möglich ist, sich etwas mehr als Mensch einzubringen. Und das hat sich hier im BK für mich bewahrheitet. Ich persönlich glaube, dieses Krankenhaus ermöglicht es besser als viele andere, dass Menschen sich mit ihren Fähigkeiten als Mitarbeiter einbringen können und dass mit ihnen zusammen das Krankenhaus weiterentwickelt werden kann. Es ist keine hohle Phrase: Hier im BK zählt der Mensch als Individuum und ist nicht so einfach ersetzbar.
Unsere Qualität des Personals und der Abläufe, die Ausstattung an baulicher Substanz und auch an Medizintechnik sucht wirklich ihresgleichen. Vielleicht sind sich viele unserer Mitarbeiter dessen gar nicht so bewusst. In der Neurologie machen wir fast ebenso High-End-Medizin wie in einer Uniklinik. Und wir haben einen wirklich guten Personalstamm. Es sind tolle Menschen, gute Ärztinnen und Ärzte und wertvolle Mitarbeiter. Anders als viele andere Häuser das können, investiert – so wie ich das wahrnehme – das BK kontinuierlich in die Ausstattung, das Gebäude sowie die Fortbildung und Weiterentwicklung der Mitarbeiter. Beispiele: Sabrina Schulz und Dr. Fiete Borth, früher tragende Assistenzärzte, sind inzwischen bei uns Oberärzte mit speziellen Expertisen. Dr. Nils Bonnkirch war vor zehn Jahren unser erster PJler hier im BK und ist anschließend als Assistenzarzt geblieben. Nach dieser Zeit hatten wir keine langfristige Stelle frei. Wir wollten ihm aber eine Perspektive hier bei uns im Haus geben. Zusammen mit unserer Geschäftsführung haben wir die Idee verwirklicht, dass er an einer anderen Klinik Zusatzqualifikationen erwirbt und jetzt als Oberarzt neue inhaltliche Akzente ins BK einbringt.
Was ist Ihr Ausgleich zur Arbeit?
Ich würde es nicht Ausgleich nennen, sondern Ergänzung und Erweiterung. Ich finde den überall zu hörenden Ruf nach Work-Life-Balance zu kurzsichtig, wenn es darum gehen soll, die Arbeit vom Leben fernzuhalten. Natürlich brauche ich wie jeder andere auch meine arbeitsfreien Tage und ich genieße es, Zeit für meine wunderbare Familie und Freunde, Haus und Garten, Sport, Hobbys und vielfältige Erlebnisse zu haben. Diese Zeit, in der ich Kraft tanke, ergänzt den Arbeitsalltag und erweitert den Horizont.
Denn warum soll ich ein Gleichgewicht zwischen Leben und Arbeit schaffen, wenn Arbeit doch ein wesentlicher Teil des Lebens ist? Jetzt sagen viele vielleicht: Der Tergau ist ja auch Chefarzt und hat leicht reden. Aber auch ich war einmal Student, Assistenzarzt und Oberarzt, habe Nacht- und Wochenenddienste gemacht. Ich habe nicht vergessen, wie es ist. Deshalb möchte ich mit meinem Team eine Arbeitsumgebung schaffen, in der Mitarbeiter nicht sagen: „Ich muss hier schnell wieder weg – ich brauche zu Hause meine Erholung, sonst halte ich das nicht durch.“ Ich wünsche mir, dass möglichst viele in meinem Team gern zur Arbeit kommen, ihre Arbeit und die hier verbrachte Zeit als sinnvollen Teil ihres Lebens ansehen. Wenn das gelingt, müssen sie sich nicht zu Hause von der Arbeit erholen, sondern haben dort einen freien Kopf für andere schöne Dinge des Lebens.
Ist Ihr Hobby, beziehungsweise Ihre Ergänzung, die Musik?
Das hat sich also schon rumgesprochen. (lacht)
Ich spiele viel Oboe und auch gern Orgel. Die Musik begleitet mich schon mein ganzes Leben. Musik allein oder gemeinsam mit anderen zu machen, ist ein tolles Erlebnis. Na klar, es braucht Konzentration und Energie, fordert mich körperlich und geistig. Aber die Musik gibt umso mehr Energie zurück und setzt Kräfte frei. Und sie beglückt – umso mehr, wenn man mit anderen Menschen zusammen Musik macht und diese gemeinsam erlebt, ein Musikstück zusammen erarbeitet, ein Konzert gemeinsam erfolgreich gestaltet. Musik wirkt auf vielfältige Weise, über die man nicht so einfach nachdenken kann – und auch gar nicht muss. Musik durchdringt den Körper und berührt die Seele. Sie ist eine andere Art von Sprache, von Kommunikation. Nun könnte ich als Neurologe sagen, Musik wird anders im Gehirn verarbeitet; es gibt neurologische Störungen, bei denen können Patienten nicht sprechen, aber singen. Aber lassen wir die Neurologie einmal beiseite. Musik zu hören, ist großartig; Musik zu machen ist wundervoll.